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Groß- oder Kleinschreibung?

autor
titel
Groß- oder Kleinschreibung?
untertitel
Ein Hauptproblem der Rechtschreibreform.
reihe
Duden-Beiträge zu Fragen der Rechtschreibung, der Grammatik und des Stils
band
1
heraus­geber der reihe
duden­redaktion unter der leitung von Paul Grebe
verlag
Biblio­graphisches Institut, Duden-verlag
ort
Mannheim
datum
auflage
1
ausstattung, umfang
broschiert, 91 s.
umschlag
titel

Inhalt

Geleitwort des Herausgebers 6
Vorwort des Verfassers 7
Einleitung 9
Vermehrte Groß­schreibung 15
Vermittlungsentwurf von H. Glinz 16
I. Reduzierte Substantive 17
II. Andere Wörter in der Rolle von Substantiven 19
  1. Substantivierungen heimischer Wörter – 2. Substantivierungen fremder Wörter  
Das Kriterium des ,,Dingbegriffs“ (Th. Baum – R. Eicher) 23
I. Verblaßte Substantive 25
II. Substantivierungen 27
  1. Adjektive, Adverbien, Partizipien 2. Zahlwörter 3. Unbestimmte Pronomina 4. Infinitive 5. Sonstige Substantivierungen  
Das Kriterium des Stilgefühls (W. Pfleiderer) 34
I. Verblaßte Substantive 35
  1. Adverbiale Ausdrücke (Präposition + Substantiv) – 2. „Vorwörter“ (Akkusativobjekte oder adverbiale Ausdrücke) von Verben  
II. Substantivierungen 37
  1. Pronominaladjektive – 2. Sonstige unbestimmte Fürwörter – 3. Besitzanzeigende Fürwörter – 4. Zahlwörter – 5. Adjektive und Partizipien – 6. Infinitive  
Zusammenfassung 42
Wortlisten 49

Vorwort des Verfassers

Die Be­mühungen um eine Reform der deutschen Recht­schreibung haben sich seit einigen Jahren verstärkt und sind in ein akuteres Stadium getreten. 1954 hat die aus Ver­tretern West­deutschlands, der Sowjet­zone, Öster­reichs und der Schweiz be­stehende „Arbeits­gemeinschaft für Sprach­pflege“ ihre „Stutt­garter Empfehlungen“ ver­öffentlicht. Seit 1956 besteht ein west­deutscher „Arbeits­kreis für Rechtschreib­regelung“, der vom Bundes­ministerium des Innern und von der Ständigen Konferenz der Kultus­minister ein­berufen worden ist und in drei Aus­schüssen sämtliche Probleme der deutschen Recht­schreibung überprüft, Grund­lagen zu möglichen Lösungen erarbeiten und zu bestimmten Vorschlägen kommen will.

Aus der Mitwirkung in diesem Arbeits­kreis, der ich mich als Germanist nicht entziehen zu dürfen glaubte, sind die folgenden Über­legungen erwachsen. Sie be­schäftigen sich mit der Groß- und Klein­schreibung als einem alten Haupt­anliegen jeder Rechtschreib­reform. Hier soll die Frage, vom Streit des Tages gelöst, unter wissen­schaftlichen Gesichts­punkten betrachtet werden. Die Dar­stellung besitzt zugleich Zeitnähe, indem sie von konkreten Lösungs­versuchen ausgeht, die jüngst gemacht worden sind. In der Form möchte sie sich an weitere Kreise wenden.

Manche Anregung und Klärung verdanke ich dem Gedanken­austausch mit Mit­gliedern des Arbeits­kreises, vor allem mit den Herren Univ.-Prof. Dr. Hennig Brinkmann und Univ.-Prof. Dr. Leo Weisgerber, aber auch Dr. habil. Paul Grebe sowie – trotz abweichenden Folgerungen – Prof. Dr. Wolfgang Pfleiderer und Oberstudien­direktor Dr. Gerhard Storz.

Im Juni 1958
Hugo Moser


Auszug ab s. 9: Einleitung

Eines der be­deutendsten Probleme, welche die deutsche Rechtschreibung stellt, ist das der Groß- und Klein­schreibung. Selbst unter den „Gebildeten“ beherrscht kaum jemand die heutigen verwickelten Regeln völlig, und der Ruf nach einer Verbesserung ist allgemein. Darum werden auch bei dem in der Bundes­republik vom Bundes­innenministerium und der Ständigen Konferenz der Kultus­minister 1956 einberufenen „Arbeits­kreis für Rechtschreib­regelung“ die Fragen der Groß- und Klein­schreibung in einem eigenen Unter­ausschuß intensiv bearbeitet; ihm sind auch die im folgenden behandelten Reform­vorschläge wie die meisten meiner eigenen Überlegungen dazu unterbreitet worden.

Ohne auf Einzel­heiten einzugehen, rufen wir uns die Grundzüge der Entwicklung ins Gedächtnis, die zur heutigen Regelung geführt haben1. Am Satz-, Strophen- und Vers­anfang findet sich der Groß­buchstabe in ungeregelter Weise seit dem frühen Mittel­alter. Er wird am Beginn eines Absatzes oder einer Strophe im 14./15. Jahr­hundert, am Vers­anfang im 15., am Satz­beginn (mit dem Punkt am Satz­ende) dagegen erst etwa seit der Mitte des 16. Jahr­hunderts fest, wobei er in dieser Zeit auch noch häufig am Anfang von Neben­sätzen steht. Im Satz­innern dient die Majuskel am Beginn eines Wortes zunächst nur zu dessen Hervor­hebung, und sie ist darum auf keine besondere Wortart beschränkt.

Schon früh, besonders aber seit dem 13. Jahr­hundert, jedoch regel­mäßig erst seit der Mitte des 16. Jahr­hunderts schreibt man die Eigennamen groß. Bei den übrigen Substantiven erscheint Groß­schreibung vereinzelt schon im 12. Jahr­hundert, häufiger jedoch erst seit dem 14. Jahr­hundert; sie breitet sich aber seit dem zweiten Viertel des 16. Jahr­hunderts rasch aus und ist am Ende des Jahr­hunderts fast ganz zur Herrschaft gelangt. Ausgehend von der Groß­schreibung der Eigennamen gebraucht man die Majuskel auch für Bezeichnungen, die mit Eigennamen verknüpft waren, wie Kaiser, König, Papst, aber auch Herr usw., für Kollektiv­begriffe von Personen wie Welt, Mensch, Christ, für Versammlungs­orte von Personen, wie Konzil, Kloster, vor allem aber für die nomina sacra, wie Gott, Christus, Jungfrau, Evangelium, Sakrament.

1 Vgl. V. Moser, Frühneuhochdeutsche Grammatik I, 1, 1929, S. 11 ff.; A. Hagemann, Die Majuskel­theorie der Grammatiker von J. Kolroß bis auf K. F. Becker, Programm Graudenz, 1876; W. Wilmanns, Die Orthographie in den Schulen Deutschlands, 21887, S. 164 ff.; vgl. auch H. Malige-Klappenbach, Die Entwicklung der Groß­schreibung im Deutschen, in:Wissen­schaftliche Annalen, 1955, S. 102 ff.

Die zeitliche Entwicklung der Groß­schreibung von Adjektiven vollzieht sich ähnlich, wobei diese zunächst – und zwar wieder regelmäßig seit der zweiten Hälfte des 16. Jahr­hunderts – bei den von Eigennamen abgeleiteten (Römisch, Lutherisch usw.) und dann bei den auf hoch­stehende Personen und besonders auf heilige Namen zurück­gehenden angewandt wird (Kaiserlich, Päpstlich, Göttlich, Christenlich). Zum Teil werden dann auch andere von Substantiven abgeleitete Adjektive groß geschrieben. Die Anrede­pronomina erscheinen seit dem 14. Jahr­hundert gleichfalls zum Teil mit Majuskel, die aber auch zur Hervor­hebung von Zahlwörtern und Verben benützt wird.

Hervorhebung und Ausdruck der Ehrerbietung sind also die Haupt­funktionen der Majuskel. Hervor­gehoben werden sollten seit der frühen Neuzeit die sinn­tragenden Wörter und die Substanzen. Der Groß­buchstabe ist also zunächst ein Signal­zeichen wie heute die Unter­streichung, die Anführungs­striche oder der Kursivdruck. Dazu tritt in zu­nehmendem Maße die ästhetische Aufgabe, das Schriftbild zu schmücken. Man sieht, daß der Begriff des „Hauptworts“ von Anfang an der Klarheit und Eindeutigkeit entbehrt.

Die Schreibung der Lutherischen Bibel­übersetzung zeigt deutlich die Entwicklung zur Majuskel. In der Über­setzung des Neuen Testaments von 1522 werden nur die Eigennamen und Bezeichnungen Gottes mit Groß­buchstaben gedruckt, während in den Bibel­ausgaben seit 1534 viele sonstige Benennungen sakraler Art ebenfalls mit Groß­buchstaben wieder­gegeben werden, und zwar in einem solchen Umfang, daß schon die Mehrzahl der Substantive groß geschrieben sind. Luthers Übersetzung von Psalm 16 (17), Vers 1–6, mag dies zeigen1:

1 Abgedruckt nach F. Tschirch, 1200 Jahre deutsche Sprache, 1955, S. 117 und 119.

  1523 1545
1 Herr erhore die gerechtickeyt
merk auff meyn rüffen
vernym meyn gebet aus den lippen on
betrug
HERR erhöre die Gerechtigkeit,
Merck auff mein geschrey,
Vernim mein Gebet, das nicht aus fal-
schem munde gehet.
2 Meyn recht gehe von dyr aus
Deyne augen las sehen die richtigen
Sprich du in meiner Sache,
Vnd schaw du auffs Recht.
3 Du hast meyn hertz bewerd vnd des
nachts heymgesücht
vnd hast mich durch fewret
vnd nichts funden
Ich hab mich bedacht das meyn mund
nicht soll vbertretten
Du prüfest mein hertz, vnd besuchests
des nachts,
Vnd leuterst mich
vnd findest nichts,
Ich hab mir fur gesetzt, das mein mund
nicht sol vbertretten.
4 Auff menschen werck ynn deyner lippen
worten ich hab den weg des reyssers
verhutet
Ich beware mich in dem wort deiner
Lippen, fur Menschen werck, auff dem
wege des Mörders.
5 Erhallt meyne genge auff deynen fus-
steygen
das meyne tritt nicht gleytten (schlipf-
fern, straucheln)
Erhalte meinen Gang auff deinen Fus-
steigen,
Das meine tritt nicht gleitten.
6 Ich ruffe dich an, Gott,
du wolltist mich erhoren
Neyge deyne oren zu myr,
hore meyne rede
ich ruffe zu dir, das du Gott woltest mich
erhören,
neige deine Ohren zu mir, höre meine
rede.

Die Grammatiker sind zunächst hinsichtlich des Gebrauchs der Majuskel uneins. Den meisten Grammatikern des 16. Jahr­hunderts erscheint das Problem der Groß­schreibung nicht wichtig, und sie übergehen es (so Fabian Frangk, Valentin Jckelsamer, Albert Oelinger, Laurentius Albertus, Johann Claius). Dagegen verlangt Johann Kolroß 1530 die Majuskel für den Satzanfang, die Eigennamen und den Namen Gottes, J. Becherer 1596 und ähnlich J. Girbert 1653 jedoch schon für die Substantive und für die von Eigennamen abgeleiteten Adjektive. Die Versuche, die sehr regellose Verwendung der Majuskel zu normieren, werden dann seit dem 17. Jahr­hundert zahlreich. Sattler, Gueinz, Schottel, Stieler wollen den Groß­buchstaben nicht regelmäßig für alle „Haupt­wörter“, und Gueinz und Schottel möchten ihn nur für Eigennamen und hervor­gehobene Substantive zulassen (der erstere auch für Adjektive, die von Eigennamen abgeleitet sind). Aber 1690 verlangt dann der Berliner Rektor Bödiker im Sinne der heutigen Regelung: „Alle Substantiva und was an deren statt gebraucht wird (also die Substanti­vierungen) müssen mit einem großen Buchstaben geschrieben werden.“

Während sich im 18. Jahr­hundert noch Frisch energisch gegen die Groß­schreibung der Substantive wendet und sie bezeichnender­weise als eine besonders beschwerliche und unbegründete unter den „Schreib-Lasten, die man nach und nach den Einfältigen aufgebunden hat“, betrachtet, nennt sie Gottsched gelehrten­stolz eine „wohl hergebrachte Gewohnheit, wodurch unsere Schrift einen merklichen Vorzug der Grund­richtigkeit vor andern“ bekomme, und er wendet sich gegen die, welche durch ihre Abschaffung „uns, oder vielmehr nur dem Pöbel, das Schreiben […] zu erleichtern gesucht“1.

Wohl vor allem durch die Autorität Gottscheds wird dann im 18. Jahr­hundert „ein ursprünglich frei spielendes Stilisticum zu einem orthographisch-grammatischen Obligatorium eingefroren“2. Allerdings schwankt Adelung zum Teil noch, und in Jacob Grimm ersteht dann seit den 20er Jahren des 19. Jahr­hunderts der Groß­schreibung der Hauptwörter ein erklärter Gegner, der in ihr wie Frisch eine „Erschwerung des Schreibens“ sieht und die durch sie „verscherzte Einfachheit der Schrift“ bedauert.

1 Zitate nach Wilmanns, a. a. O. S. 167 f.

2 R. Hotzenköcherle, Groß­schreibung oder Klein­schreibung?, in: Der Deutsch­unterricht 1955, H. 3, S. 33; vgl. Gottsched, Deutsche Sprachkunst, 1762, S. 100 ff., 151 ff.

Dem Begriff des „Hauptworts“ blieb, als dieses zu einer orthographischen Kategorie gemacht wurde, der schwankende Charakter anhaften, den er seit dem Früh­neuhochdeutschen hatte. Heute hält allein das Deutsche noch daran fest, eine bestimmte, in ihrem Wesen aber unbestimmte Wortart (oder ein Satzglied?) durch die Majuskel hervor­zuheben. Es gilt der Zirkel, den Leo Weisgerber einmal mündlich treffend so formuliert hat: Hauptwörter schreibt man groß, und was groß geschrieben wird, ist ein Hauptwort. Die Schwierig­keiten, die sich dabei ergeben, sind erheblich. Die heute geltenden Vorschriften sind im „Rechtschreibduden“ verbindlich zusammengefaßt, welcher das maßgebliche, für die west­deutschen Schulen durch Beschluß der Ständigen Konferenz der Kultus­minister offiziell zuständige Rechtschreibe­buch darstellt, dessen Regelungen aber auch in der Sowjetzone und in der Schweiz und im ganzen auch in Österreich und in den übrigen Teilen des deutschen Sprach­gebiets gelten. Seine Bestimmungen zur Groß- und Klein­schreibung umfassen nicht weniger als 12 Grund- und 17 Unterregeln, ohne daß eine volle Klarheit erreicht würde.


Auszug ab s. 42: Zusammenfassung

Es ergibt sich also auf empirischem Wege, daß eine prinzipielle, generelle Regelung der Groß- und Klein­schreibung unter Beibehaltung der Majuskel für die „Hauptwörter“ nicht möglich ist. Für viele „Grenzfälle“ gäbe es nur mehr oder weniger willkürliche Lösungen. Die neuen Regeln wären nicht weniger verwickelt als die derzeitigen, und es kämen die Schwierigkeiten des Umlernens dazu. Theoretisch führen H. Brinkmanns Darlegungen zum Substantivbegriff1 zu dem gleichen Ergebnis. Sowohl die verblaßten Substantive wie die Substantivierungen lassen sich orthographisch nicht gruppieren und mit Regeln erfassen, weil die Übergänge von einer Wortart zur anderen unscharf, fließend sind.

1 Vgl. H. Brinkmann a. a. O.

Die Bemühungen, die Probleme der Groß- und Klein­schreibung auf dem Wege einer vermehrten Anwendung der Majuskel zu lösen (Rotzler, zum Teil auch Mackensen), führen, wenn man sie folgerichtig durchführen wollte, zu den größten Schwierigkeiten und widersprechen einer deutlichen Tendenz der Schreibenden zur Minuskel; es ist ihnen darum auch keine günstige Aufnahme zuteil geworden.

Auch die neueren Vorschläge einer mittleren Linie, die in der Frage der Groß- und Klein­schreibung gemacht wurden, führen, wie sich ergeben hat, nicht zu einer befriedigenden Regelung.

Glinz ist selbst zu der Überzeugung gekommen, daß die von ihm vorgelegten Empfehlungen nicht verwirklicht werden können. Die Überprüfung hat gezeigt, daß, wenn man die Groß- und Klein­schreibung der kritischen Fälle in das Belieben des einzelnen stellt, eine viel zu breite Freizone mit Tausenden von Beispielen entstünde, wie sie in einer Zeit, da sich das Ideal der Schreibrichtigkeit (nicht nur in der Schule und bei den Korrektoren) so stark durchgesetzt hat, und angesichts der Tatsache, daß keine andere Kultursprache eine ähnliche orthographische Uneinheitlichkeit aufweist, nicht vertreten werden kann.

Die Vorschläge Baum-Eicher gründen sich auf der Tendenz der Sprecher bzw. der Schreibenden zur Minuskel. Sie machen den verdienstvollen Versuch, im Sinne einer Einschränkung der Majuskel zu einer systematischen Regelung zu gelangen, und sie bringen auch im einzelnen manche fruchtbare Anregung. Aber das, was sie im Zusammenhang mit der Schreibung der substantivierten, endungslosen neutralen Adjektive sagen, gilt auch für viele andere Teile ihrer Vorschläge: „Ob es uns gelungen ist, einen gordischen Knoten zu durchhauen, könnte nur die Praxis beweisen.“ Bei einer empirischen Erprobung an Hand ausgedehnter Wortlisten zeigt sich, daß ihr Merkmal des „Dingbegriffs“, durch das sie das Substantiv bestimmt sein lassen, für die Regelung der Groß- und Klein­schreibung nicht geeignet ist. Allein bei den in meinen Wortlisten aufgeführten Beispielen können zu 1500 Zweifelsfälle ergeben.

Auch Pfleiderers Empfehlungen gehen deutlich in der Richtung einer Ausweitung der Klein­schreibung. Aber sie erreichen im Bereich der verblaßten Substantive wie der Substantivierungen, abgesehen von den obengenannten Gruppen, ebensowenig eine klare Abgrenzung zwischen Groß- und Klein­schreibung, da das Kriterium des Stilgefühls diese häufig nicht ermöglicht. Die Notwendigkeit, daß sich die Lernenden die getroffenen Entscheidungen in weitem Unfang mechanisch aneignen müßten, bleibt bestehen.

Seitdem im 18. Jahr­hundert die Majuskel für die „Hauptwörter“ Vorschrift wurde, mühen sich die Grammatiker vergeblich ab, eine Regelung für die Verteilung von Groß- und Klein­schreibung (und der damit zusammenhängenden Getrennt- und Zusammen­schreibung) zu finden, und immer geht es einerseits um die verblaßten Substantive und andererseits um die Substantivierungen. So befaßt sich z. B. schon 1722 Hieronymus Freyer in seiner „Anweisung zur Teutschen Orthographie“ (S. 29) mit der Frage nach der Schreibung von Substantiven, die „vermittels einer Präposition oder durch eine andere Construction gleichsam zu adverbiis werden“1, und Adelung äußert 1782 in seinem „Umständlichen Lehrgebäude der Deutschen Sprache“ (Bd. II, S. 729): „Wenn Adjective die Gestalt eines Substantives bekommen, aber als Umstandswörter stehen (aufs beste, am ehesten, mit dem frühesten, aufs neue, in allem), so hat der große Buchstabe nur einen Grund für sich, aber zwey wider sich. Der erste ist die äußere Gestalt eines Substantives, die beyden letzteren aber sind, der adjectivische Ursprung und die adverbische Bedeutung; daher man sie am liebsten mit einem kleinen Buchstaben schreibet“2. Die vielen Vorschläge zur Regelung der Groß- und Klein­schreibung, die im 19. und 20. Jahr­hundert gemacht wurden, kreisen immer um dieselben Probleme.

Die hier besprochenen Vorschläge und ihre kritische Untersuchung haben zu einem wichtigen Ergebnis geführt, das die seit 250 Jahren immer wieder ausgesprochenen Erkenntnisse bedeutender deutscher Grammatiker voll bestätigt, und zwar auf Grund eines breiteren, den heutigen deutschen Wortschatz nahezu vollständig erfassenden Materials: es gibt bei der Beibehaltung der Majuskel für die „Hauptwörter“ jetzt und in der Zukunft keine prin­zipielle und ge­nerelle Lösung des Problems der Groß- und Klein­schreibung, und es wäre vergebliche Liebesmühe, weiter danach zu suchen. Das rührt, wie wir gesehen haben, daher, daß es keinen eindeutigen Begriff des „Hauptworts“ gibt und daß die Wortarten ständig ineinander übergehen. Wilmanns hat dies vor 70 Jahren so ausgedrückt:

… die Substantiva berühren sich mit Adverbien, die Verba mit dem Nomen, die Substantivum; Verba und Adjectiva treten oft in die Funktion von Substantiven, aber sie behalten immer etwas von ihrer alten Art, das sie von den andern Substantiven trennt. Wenn man diese zarten sprachlichen Übergänge bezeichnen wollte, so brauchte man außer den großen und kleinen Buchstaben eine unendliche Reihe von Abstufungen zwischen beiden. Eine bestimmte Grenze querdurch ist nicht zu finden. Die Regeln führen zu den spitzfindigsten Unterscheidungen, und in vielen Fällen ist ohne Willkür gar nicht durchzukommen3.

So bleibt also, da eine „Freizone“ für die Tausende von Grenzfällen ausscheiden muß, offenbar nur die Alternative:

Beibehaltung der jetzigen ver­wickelten und von niemand voll be­herrschten Regelung mit gewissen un­bedeutenden Änderun­gen bzw. Schaffung einer neuen Kasuistik

oder

Einführung der inter­national üblichen ge­mäßigten Klein­schreibung (also des ge­nerellen Ge­brauchs der Minus­kel mit Aus­nahme der Eigen­namen, ein­schließlich der Namen Gottes, und der Satz­anfänge).

1 Zitat nach Hagemann a. a. O. S. 14.

2 Zitat nach Hagemann a. a. O. S. 19f.

3 Wilmanns a.a. O. S. 170, mit Hinweis auf Adelung, Umständliches Lehrgebäude der deutschen Sprache 1782, II, S. 729.

Die möglichen Änderungen der heutigen Regelung beträfen folgende Fälle:

1. Die substantivierten Grund- und Ordnungszahlwörter wären allgemein mit Minuskel zu schreiben, vgl. die einen, die ersten usw. (aber die Eins, der Ein(ser) usw. ?).

2. Ebenso könnte die durchgehende Klein­schreibung für die Herkunftsadjektive auf -isch und -er eingeführt werden, vgl. platonische Dialoge, schweizer Städte usw. (Pfleiderer möchte hier Groß­schreibung).

3. Da die Gruppe der Pronominaladjektive im Sinne Pfleiderers schon jetzt fast durchweg klein geschrieben wird, wären darüber hinaus nur punktuelle Änderungen möglich, die nicht nach einem einheitlichen Prinzip, sondern unter Anwendung jeweils verschiedener Betrachtungsweisen vorgenommen werden müßten und weithin subjektiver Art wären. Dabei könnten auch einige Ungereimtheiten der jetzigen Regelung wie in bezug auf – mit Bezug auf, ins einzelne gehenvom Einzelnen ins Ganze gehen, folgendes Beiliegendes wenigstens ausgeglichen werden (vgl. Wortliste 4c).

Diese Änderungen würden aber die Grundschwierigkeiten nicht beseitigen.

Man kann es verstehen, daß viele Mitglieder der deutschen Sprachgemeinschaft in der Groß­schreibung einen ihnen teueren Traditionswert erblicken und daß sie um der Kontinuität der Schriftüberlieferung willen an ihr festhalten wollen. Ich stimme aber Baum-Eicher zu, wenn sie im „Grundsätzlichen“ feststellen1, daß wirtschaftliche und „nationale“, aber auch ästhetische Gründe die Beibehaltung der heutigen Groß­schreibung nicht rechtfertigen können. Dagegen bin ich nicht ihrer Meinung, daß die heutige Regelung das Lesen erleichtere, die Klein­schreibung dieses aber erschwere. Es handelt sich hier nur um eine Frage der Gewöhnung, wie die Erfahrungen sämtlicher Fremdsprachen zeigen2. Dazu wird von sprechkundlicher Seite geltend gemacht, daß die Groß­schreibung nur das Erkennen von Wortbildern, nicht aber das von inhaltlichen Schwerpunkten erleichtere, das des Satzsinnes jedoch im Gegenteil erschwere3. Es ist nicht zu beweisen, daß, wie Baum-Eicher und andere befürchten, ein „Rechtschreibchaos“ die Folgen einer Einführung der Klein­schreibung wäre, so wenig wie ein solches etwa nach 1948 in Dänemark eintrat, als man dort zur gemäßigten Klein­schreibung überging (s. unten).

1 Vgl. „Erläuterungen“ S. 4ff.

2 Vgl. J. Grimm: „Hat nur ein einziges Geschlecht der neuen Schreibweise sich bequemt, so wird im nachfolgenden kein Hahn nach der alten krähen“ (Vorwort zum Deutschen Wörterbuch, 1854, S. LIV). Mit dieser Berufung auf J. Grimm soll natürlich nicht dessen sonstigen historisierenden Rechtschreibregelungen das Wort geredet sein.

3 Prof. Winkler (Marburg); mündlich. – Was die Möglichkeit der Verwechslung von gleichgeschriebenen Homonymen angeht, deren Zahl bei dem Verzicht auf den Gebrauch der Majuskel für die „Hauptwörter“ sich vergrößern würde (Braut – braut, Weisen – weisen, Zeugen – zeugen usw.), so hat Wilmanns dazu schon das Richtige gesagt: „Der Wunsch, das Verständnis zu sichern, würde nur die Vorschrift rechtfertigen, daß man den großen Anfangs­buchstaben da setze, wo Gefahr einer irrtümlichen Auffassung dadurch vermieden werden kann. Ganze Bücher wird man schreiben können, ohne von diesem Mittel Gebrauch zu machen …“ (Wilmanns a. a. O. S. 169 a. 1).

Das oft gehörte Bedenken, daß die Klein­schreibung Dichter und Schriftsteller in Schwierigkeiten brächte, ist von R. Hotzenköcherle durch ein wichtiges Argument unterbaut worden1. Er hat auf den Zusammenhang zwischen der Groß­schreibung und dem neuhochdeutschen Satz mit seinen zahlreichen Substantivierungen und seinem verwickelten „Schachtelbau“ hingewiesen, der eng zusammengehörige Satzglieder, vor allem im verbalen Bereich, oft weit auseinanderstellt (vgl. die französiche Charakterisierung des deutschen Satzes: Attendez le verbe!). Dieses Bedenken läßt sich aber durch den Hinweis auf die Werke Stefan Georges und auf viele philologische Zeitschriften entkräften, die in Kleinschrift gedruckt wurden, ohne daß die oft sehr ausgebauten syntaktischen Fügungen dadurch behindert waren. Sollte aber als Folge der Klein­schreibung etwa ein weiterer Rückgang der Klammersätze und eine Schrumpfung der Substantivierungen eintreten, so könnte ich darin, wie ich schon an anderer Stelle ausgeführt habe, keinen Schaden erblicken2. Die von Baum-Eicher aus den Fremdsprachen zitierten Beispiele zeigen im übrigen, daß die Majuskel gerade bei durchgeführter Klein­schreibung ihre ursprüngliche Funktion, sinnschwere Satzglieder hervorzuheben, wiederbekommt.

Auf der anderen Seite können gewichtige Gründe für die Einführung der gemäßigten Klein­schreibung angeführt werden, So hoch man die Tradition und Kontinuität der Überlieferung schätzen muß, so muß auch der Tradition, soll sie nicht erstarren, das dynamische Element der Entwicklung eignen. Das gilt auch für die Sprache wie für die Schreibweise3; das oft beigezogene Beispiel des Französischen und Englischen, bei denen eine bewahrte historische Schreibweise einen solchen Abstand zwischen lebendiger Sprache und Schrift geschaffen hat, daß die wenigsten Franzosen und Engländer die orthographischen Regeln mehr beherrschen und daß eine Reform wirklich fast unmöglich geworden ist, zeigt die Gefahr, die in einem orthographischen Stillstand liegt. Außerdem ist zu bedenken, daß etwa auch das Schriftbild, in dem heute unsere Klassiker gedruckt werden, nicht mehr das der Zeit um 1800 ist. Wenn man auf die nur noch im Deutschen übliche orthographische Kennzeichnung einer zudem begrifflich nicht scharf faßbaren Wortart, des„Hauptworts“, verzichtete, würde man mit einem Schlag alle in den verschiedenen Vorschlägen zur Sprache gebrachten „kritischen“ Fälle ausschalten und schüfe dadurch eine wirkliche Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung. Wie weitreichend sie wäre, erhellt die Tatsache, daß sich etwa 30% der Rechtschreibfehler1 und die Mehrzahl der bei der Beratungsstelle der Dudenredaktion einlaufenden Anfragen auf diesen orthographischen Bereich beziehen.

1 [zu s. 46] Vgl. R. Hotzenköcherle, Groß­schreibung oder Klein­schreibung ?, in: Der Deutschunterricht, H. 3, 1955, S. 30 ff., bes. S. 41 ff.

2 [zu s. 46] Vgl. dazu Verf., Rechtschreibung und Sprache, in: Der Deutschunterricht H. 3, 1955, Die deutsche Rechtschreibereform, S. 27.

3 [zu s. 46] Vgl. a. a. O. S. 5 ff.

Es läßt sich nicht bezweifeln, daß die Spracherziehung aus einer solchen Vereinfachung großen Gewinn zöge, indem einerseits Zeit für eine sinnvollere Beschäftigung mit der Mutter­sprache gewonnen würde, andererseits (ein Argument, das besonders von L. Weisgerber nachdrücklich vorgebracht wird2) ein Zustand beendet würde, daß das Kind schon vom ersten Schuljahr an mit un­verstandenen grammatischen Kategorien befaßt wird, nicht nur mit dem eigentlichen Substantiv, sondern auch mit substantivierten Adjektiven, Partizipien, Infinitiven sowie mit verblaßten Substantiven was alles zum Begriff des „Hauptworts“ gehört. Feststeht, daß die deutsche Groß- und Klein­schreibung in dem durchweg klein­schreibenden Ausland als ein Hindernis bei der Erlernung des Deutschen gilt und daß der Verzicht auf die Groß­schreibung der „Hauptwörter“ dem Deutsch­unterricht für Ausländer sehr zustatten käme. Das hat erst kürzlich der bekannte französische Germanist der Sorbonne Jean Fourquet aus­gesprochen: „… l’enseigne­ment de l’allemand comme langue étrangère en serait le premier béné­ficiaire“3.

Man wird auch nicht übersehen dürfen, daß, wenn das seit Jahr­zehnten diskutierte Problem der Groß- und Klein­schreibung jetzt nicht durch­greifend gelöst wird, es auch künftig nicht zur Ruhe kommen wird. Die Tendenz der Schreibenden geht seit langem zur Klein­schreibung – neuerdings zum Teil auch aus äußerlichen Gründen technischer Art, die als solche nicht entscheidend sein dürfen, aber die schon vorhandene Neigung verstärken (Bequemlich­keit und Zeit­ersparnis beim Maschine­schreiben, nachdem man sich durch Telegramme und Fernschreiben sowie durch Verfahren des graphischen Gewerbes schon seit geraumer Zeit daran gewöhnt hat, daß die Hauptwörter durch die Schreibweise nicht eigens gekennzeichnet werden).

1 Vgl. L. Weisgerber, Die Grenzen der Schrift – Der Kern der Rechtschreib­reform (Arbeits­gemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geistes­wissenschaften, H. 41), 1955, S. 24.

2 Vgl. a. a. O. S. 25.

3 J. Fourquet, Besprechung von L. Weisgerber, Die Grenzen der Schrift, in: Etudes Germaniques, 12ª année, No. 3, Juillet-Septembre 1957, S. 262.

Das Pro und Contra wird ernsthaft erwogen werden müssen. Es wird auch zu prüfen sein, ob sich hinter dem sehr achtenswerten Traditionswert Groß­schreibung nicht zum Teil bloß eine kritischer Prüfung nur schwer standhaltende Gewohnheit verbirgt und die verständliche Scheu umzulernen1. Auf jeden Fall scheint mir, daß man die Gründe, welche für eine wirkliche Verbesserung des jetzigen, von niemandem geschätzten Zustandes sprechen, nicht auf die leichte Schulter nehmen kann und darf. Wenn man nicht die Grund­einstellung der Sprachbenützer, die heute dem Ideal der orthographischen Regelrichtigkeit anhängen, im Sinne der Freizügig­keit früherer Jahr­hunderte ändert – und die Aussichten dafür sind schon von den Bereichen der Schule und des Druck­gewerbes her betrachtet im deutschen Sprach­gebiet ebenso gering wie in den Geltungs­räumen der anderen großen Schriftsprachen –, bleibt die Frage, ob wir gegenüber den nach uns Kommenden die Verantwortung auf uns nehmen wollen, es bei der derzeitigen verwickelten, verwirrenden und verworrenen Regelung zu belassen; für die Späteren, nicht für uns, haben wir ja in erster Linie eine Entscheidung zu treffen.

1 Natürlich würde in einer längeren Übergangszeit – und im privaten Gebrauch auch über diese hinaus – die Freiheit, so oder so zu schreiben, gewährleistet werden müssen. Das bedeutet, daß unsere Generation sich für das Schreiben nicht umzustellen brauchte. – Nach Abschluß der Umbruchkorrekturen kam mir eine Äußerung der Kopen­hagener Zeitung „Politiken“ vom 21. 3. 1958 in die Hände, die aus Anlaß der zehnjährigen Geltung der reformierten dänischen Rechtschreibung schreibt: „Vor zehn Jahren fürchteten viele, daß unsere ganze ältere Literatur veralten und für die neuere Generation sogar unlesbar würde, wenn wir auf die großen Anfangs­buchstaben der Substantive verzichteten; aber diese Furcht hat sich schon jetzt als unbegründet erwiesen. Die Kinder und die Jungen, die in der Schule nur nach den neuen Regeln gearbeitet haben, sind glücklicher­weise imstande, die älteren Texte ohne die geringste Schwierigkeit zu lesen. … Schließlich hat sich die Behauptung, die Klein­schreibung würde die Möglichkeit von Miß­verständnissen stark vermehren, als nicht stichhaltig erwiesen.“ (Nach „Rechtschreibung“, Nr. 58, Juni 1958, Aarau.)